Der kroatische Premierminister Andrej Plenković hat bei einem kürzlichen Besuch in Bosnien und Herzegowina für Aufsehen gesorgt. In einem Interview mit dem öffentlichen Rundfunk des Landes äußerte er sich einerseits positiv über die Freundschaft zwischen Kroatien und Bosnien und Herzegowina sowie die Unterstützung auf dem EU-Weg des Landes. Andererseits stieß er mit seinen Kommentaren zu den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) auf Kritik, da er diese als politisch motiviert und „fabriziert“ bezeichnete. Diese Aussagen werfen ein kontroverses Licht auf Plenkovićs Sichtweise hinsichtlich der juristischen Entscheidungen, die Bosnien und Herzegowina betreffen.
In dem Interview sprach Plenković über das Sejdić-Finci-Urteil, das 2009 vom EGMR gefällt wurde. Das Urteil stellte fest, dass die Verfassung von Bosnien und Herzegowina diskriminierend ist, da sie Bürgern, die nicht zu den drei konstitutiven Völkern (Bosniaken, Kroaten, Serben) gehören, das Recht verwehrt, für das Staatspräsidium oder das Oberhaus des Parlaments zu kandidieren. Dieses Urteil sowie weitere ähnliche Entscheidungen des EGMR, wie die Fälle Zornić und Pilav, wiesen Bosnien und Herzegowina an, die verfassungsrechtlichen Diskriminierungen zu beseitigen.
Plenković äußerte jedoch die Ansicht, dass diese Urteile rechtliche Mittel seien, um politische Ziele zu erreichen. Er argumentierte, dass Bosnien und Herzegowina auf den Grundlagen des Dayton-Abkommens von 1995 beruht, welches nach dem Krieg als Friedensprojekt ausgearbeitet wurde. Veränderungen an dieser Grundstruktur würden daher politische Motive verfolgen, so Plenković.
Die Kritik an Plenkovićs Äußerungen konzentriert sich darauf, dass er die Rechtmäßigkeit und Unabhängigkeit des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Frage stellt. Er bezeichnete die Verfahren als „fabriziert“ und implizierte, dass sie politisch motiviert seien. Diese Aussagen sind besonders problematisch, da sie die Legitimität eines der höchsten Gerichte in Europa infrage stellen und gleichzeitig die Bedeutung der Umsetzung seiner Urteile für den EU-Beitrittsprozess von Bosnien und Herzegowina herabsetzen.
Während Plenković das bosnische Wahlgesetz ohne ausreichende Grundlage mit dem EU-Beitrittsprozess des Landes in Verbindung brachte, ist die Umsetzung der EGMR-Urteile tatsächlich eine klare Bedingung, die von Brüssel an Bosnien und Herzegowina gestellt wurde. Der EGMR hat wiederholt festgestellt, dass die derzeitige Verfassung von Bosnien und Herzegowina Menschen diskriminiert, die sich nicht als Angehörige der drei konstitutiven Völker deklarieren. Dies verweigert ihnen das grundlegende Menschenrecht, bei demokratischen Wahlen gewählt zu werden.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat in mehreren Fällen über Bosnien und Herzegowina (BiH) entschieden, insbesondere in Bezug auf die Diskriminierung von ethnischen Gruppen und die Verletzung von Menschenrechten in politischen und zivilen Angelegenheiten. Einige der wichtigsten Urteile umfassen:
1. Sejdić-Finci gegen Bosnien und Herzegowina (2009)
Dieses Urteil ist eines der bekanntesten in Bezug auf Bosnien und Herzegowina. Der Fall betrifft die Diskriminierung von Bürgern, die nicht der Gruppe der Bosniaken, Kroaten oder Serben angehören (die als “konstitutive Völker” im Dayton-Abkommen definiert sind). Die Kläger, Dervo Sejdić (ein Rom) und Jakob Finci (ein Jude), wurden von den Wahlen zum Staatspräsidium und zum Oberhaus des Parlaments ausgeschlossen, weil sie nicht einer dieser drei ethnischen Gruppen angehörten.
Der EGMR entschied, dass diese Bestimmungen diskriminierend und im Widerspruch zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) stehen. Das Urteil forderte Bosnien und Herzegowina auf, seine Verfassung und sein Wahlsystem zu reformieren, um diese Diskriminierung zu beenden. Bis heute wurde dieses Urteil jedoch nicht vollständig umgesetzt.
2. Zornić gegen Bosnien und Herzegowina (2014)
Ähnlich wie im Fall Sejdić-Finci stellte der Kläger in diesem Fall, Azra Zornić, fest, dass sie aufgrund ihrer Selbstidentifikation als “Bürgerin von Bosnien und Herzegowina” von politischen Ämtern ausgeschlossen wurde, weil sie nicht zu einer der konstitutiven Völker gehört. Der EGMR entschied auch hier, dass die Verfassung von Bosnien und Herzegowina gegen das Diskriminierungsverbot der EMRK verstößt und forderte eine Änderung der Verfassung und des Wahlsystems.
3. Pilav gegen Bosnien und Herzegowina (2016)
In diesem Fall ging es um Ilijaz Pilav, einen bosniakischen Bürger aus der Republika Srpska, der für das Staatspräsidium kandidieren wollte. Die Verfassung erlaubt jedoch nur Serben aus der Republika Srpska, sich um diesen Sitz zu bewerben. Der EGMR entschied, dass auch dieses System gegen die EMRK verstößt und dass Pilav aufgrund seiner ethnischen Zugehörigkeit diskriminiert wurde.
4. Šlaku gegen Bosnien und Herzegowina (2016)
Der Fall betrifft S.Šlaku, der ebenfalls wegen seiner ethnischen Zugehörigkeit von der Kandidatur für das Staatspräsidium ausgeschlossen wurde. Der EGMR entschied erneut, dass dies eine Verletzung der EMRK darstellt, insbesondere in Bezug auf das Recht auf freie Wahlen und das Verbot der Diskriminierung.
Obwohl der EGMR wiederholt entschieden hat, dass das politische System von Bosnien und Herzegowina diskriminierend ist, wurden die Urteile bisher nicht vollständig umgesetzt. Dies liegt hauptsächlich an den komplexen politischen Strukturen des Landes, die durch das Dayton-Abkommen von 1995 etabliert wurden und die Macht zwischen den drei konstitutiven Völkern aufteilen.
Die Urteile des EGMR üben jedoch weiterhin Druck auf Bosnien und Herzegowina aus, Reformen durchzuführen, die eine inklusivere und gerechtere politische Beteiligung aller Bürger unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit ermöglichen würden.
Abschließend lässt sich sagen, dass Plenkovićs Behauptungen, die Gerichtsverfahren seien politisch motiviert, von vielen als Versuch gesehen werden, die notwendige Verfassungsreform in Bosnien und Herzegowina zu behindern. Seine Äußerungen stellen einen ernsthaften Angriff auf die Rechtsprechung des EGMR dar und gefährden den Fortschritt Bosnien und Herzegowinas auf dem Weg zur EU-Integration.
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Quelle Bild: Adobe Stock, Luxembourg, Luxembourg – Oktober 3, 2014: The European Court of Justice on Kirchberg Plateau in Luxembourg, von nmann77
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